Interdisziplinäre Privatheitsforschung
Dimensionen des Privaten
Dezisionale Privatheit meint den Anspruch darauf, bei Entscheidungen und Handlungen vor unerwünschtem Hineinreden [...] geschützt zu sein. Informationelle Privatheit meint den Anspruch auf den Schutz von persönlichen Daten, die man nicht in den falschen Hände sehen will. Lokale Privatheit meint den Anspruch darauf, "[...] vor dem Zutritt anderer in Räume oder Bereiche geschützt zu werden."
(Rössler 2001: 25)
Spätestens durch das geflügelte Wort von Privatheit als dem "right to be let alone" (Warren/Brandeis 1890: 193) ist Privatheit Gegenstand internationaler Forschung. Forciert durch neue Kommunikationsmedien, Medienformate und Technologien lassen sich gerade in den letzten Jahren neue Definitionen und Konzeptionen des 'Privaten' ausmachen bzw. Verwerfungen und Kollisionen zwischen dem als privat Erachteten und dem davon abgegrenzten Bereich des Nicht-Privaten beobachten.
Im Sinne einer "great dichotomy" (Bobbio 1989: 1) wurde Privatheit bisher immer als Komplementärbegriff zum Nicht-Privaten, welches zumeist das Öffentliche ist, ex negativo konzipiert. Sie ist somit ein abgeleitetes, sekundäres, relationales Phänomen, das einen seiner möglichen Gegenbegriffe als primäre Gegebenheit voraussetzt und zunächst durch die Absenz bestimmter Merkmale des oppositionellen Phänomens charakterisiert ist.
Die Grenzziehungen zwischen den beiden komplementären Bereichen sind indes nicht natürlich, sondern vielmehr kultur-, epochen-, schicht- und gruppenspezifisch, wie es auch die jeweilige Beziehung des Privaten zum Nicht-Privaten ist (vgl. Rössler 2001: 15, 25). Sie ist überdies immer auch mit Werturteilen verknüpft, d.h. normativ (vgl. Bobbio 1989: 2, 9).
Ein Beispiel interdisziplinärer Zusammenarbeit
Im Bereich der Medien reicht heute eine juristische Analyse allein nicht mehr unbedingt zu einer umfassenden Einordnung aus. Vielmehr bedürfen dort auch terminologische, semantische, kulturelle, symbolische und medienwissenschaftliche Aspekte der Privatheit einer Betrachtung: Mediale Repräsentationen des Privaten müssen zunächst in ihrer spezifisch medialen Dynamik durch medienwissenschaftliche Methoden erschlossen werden, bevor sie sinnvoll Gegenstand anderer Disziplinen werden können. Im Anschluss daran sind Repräsentationen von Privatem im öffentlichen Raum ebenso Gegenstand rechtlicher Erwägungen wie auch der empirischen Bildungsforschung im Hinblick auf Mediennutzung und -wirkung.
Mediale Repräsentationen von Privatem schaffen gegenwärtig Äußerungsformen, die neue Diskurse und virtuelle Möglichkeitsräume ausbilden (z.B. in Social Networks) bzw. bestehende Räume (wie den der Öffentlichkeit) transformieren. Die Dynamik dieser Phänomene ist eine fortwährende juristische wie soziologisch-pädagogische Herausforderung: Prozesse der Entgrenzung des Privaten in der öffentlichen Inszenierung oder medialen Kommunizierung modifizieren tradierte Rollenbilder und erfordern differenzierte rechtswissenschaftliche Lösungsansätze.
Gerade aber Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Privatheit und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ist wiederum Grundvoraussetzung für Ansätze in anderen Arbeitsbereichen. Entsprechende Betrachtungen können sich aber nicht auf einen Kulturraum bzw. eine Rechtsordnung beschränken, sondern haben den Kulturraum Europa, der durch normative Vorgaben völker- und unionsrechtlicher Natur das nationale Recht zu beeinflussen vermag, mit in den Blick zu nehmen: Hinsichtlich unterschiedlicher, der Privatheit eingeschriebener Werte und Normen ist eine kulturspezifische und interkulturell vergleichende Perspektive für die Rechtswissenschaft unabdingbar.
Weiterhin werden kulturelle Prozesse der Abgrenzung von Privatem und Nicht-Privatem auch von informationstechnologischen Neuerungen begleitet. Daher stellt sich die Frage, wie das Recht auf diese Veränderungen reagieren soll: Die Entwicklung der sogenannten Neuen Medien hat in Form von neuen Fernsehformaten, Mobilfunk-, sowie Internetdiensten und -portalen eine Entwicklungsstufe erreicht, die eine Begleitung und Regelung dieser Potenziale durch das Recht unabdingbar erscheinen lässt.
Zudem lässt sich auch eine kulturelle Dynamik erkennen, die das Konzept der Privatheit im Kern berührt und somit einer multiperspektivischen Betrachtung bedarf.
Literatur zur Einführung
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