Privates Erzählen
Als kulturelles Phänomen wird Privatheit immer schon in der Kunst verhandelt und tradiert. Privatheit wird so zum zentralen Gegenstand unterschiedlichster künstlerischer Darstellungsformen. Dabei interessiert nicht nur die Art der Darstellung des Privaten, sondern auch das Reziprozitätsverhältnis zwischen dieser künstlerischen Verhandlung von Privatheit und den historisch-kulturspezifischen Privatheitspraktiken. Der zweitägige Workshop »Privates Erzählen« am 20.-21. Januar 2017 vom Graduiertenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung« an der Universität Passau fokussierte dieses Phänomen mit Blick auf die Literatur. Dazu untersuchten die Referentinnen und Referenten literarische Werke unterschiedlichster Epochen und Richtungen.
In einer Einführung stellten die verantwortlichen Kollegiatinnen Miriam Piegsa und Tatiana Klepikova sowie der Kollegiat Steffen Burk zunächst das Graduiertenkolleg, seine Arbeitsbereiche sowie ihre individuellen Forschungsprojekte vor und schärften so die analytische Perspektive, mit der in den folgenden Vorträgen entsprechende literarische Phänomene untersucht werden sollten. »Privates Erzählen« als Workshop-Thema böte, so Burk, der selbst zum Thema »Private Kunst. Hermetisierung und Sakralisierung der Literatur um 1900« am Graduiertenkolleg forscht, unterschiedliche Untersuchungsschwerpunkte. So sollten einerseits Darstellungs- und Erzählweisen des Privaten rekonstruiert werden, andererseits müssten die verhandelten Themen und Motive des Privaten auch in ihrem Verhältnis zur außermedialen Wirklichkeit gesehen werden, da Literatur stets in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext entstehe.
Inhaltlich eröffnete Dr. Kai Fischer (Ruhr-Universität Bochum) den Workshop mit seinen Ausführungen zum Thema »Privat fernsehen – Dystopische Erzählungen über ein neues Massenmedium«, in welchem er die Rolle des Mediums Fernsehen anhand George Orwells 1984 und Ray Bradburys Fahrenheit 451 untersuchte. Fischer stellte heraus, inwiefern die Romane und ihre »dystopischen Repräsentationen von Fernsehen Konzepte von Privatheit verhandeln«. Seine zentrale These folgte der Annahme, dass beide Texte dem TV kulturkritisch begegnen und ein Narrativ präfigurieren, das nicht nur die Schädlichkeit des neuen Mediums betont, sondern auch »die Kulturtechniken des Schreibens (1984) und Lesens (Fahrenheit 451) als eigentliche Refugien des Privaten konstituiert«. Fischer identifizierte zweierlei Ausprägungen des Privaten in den dystopischen Romanen: Privat-isolierte Verkümmerung als Folgeerscheinung des Fernsehkonsums sowie mündige Selbstfindung durch Schreiben und Lesen.
Jonathan A. Rose (Universität Passau) begegnete in seinem Vortrag »Öffentlich und/oder Privat – Fanfiction und das Internet« dem von ihm als öffentlich, aber dennoch privat typologisierten Genre der Fanfiction. Aus traditionellen Magazinformaten, den sogenannten Fanzines, verlagere sich dieses Phänomen »der Literatur von Fans für Fans« zusehend in digitale Online-Kontexte, wo es öffentlich zugänglich, doch zugleich hermetisch und privatisiert erscheine. So bedinge die Analyse von Texten der Fanfiction eine Untersuchung des entsprechenden Szenenkontexts, der von den Fans wiederum privat verstanden und mit entsprechenden Zugangsvoraussetzungen belegt werde. Damit wurde eine interessante Perspektive auf Wechselwirkungen des öffentlichen Diskurses und seiner Privatisierung durch die Fans, die die traditionelle Dichotomie ›Öffentlichkeit vs. Privatheit‹ aufzubrechen scheinen, aufgeworfen.
Der zweite Workshop-Tag bot zunächst einen literaturgeschichtlichen Einblick ins späte 18. Jahrhundert, in dem Felix Knode (Universität Göttingen) zu »Privatheit(en) unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit« referierte und Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar von 1796 analysierte. Anhand der Entwicklung des Protagonisten Woldemar werde, so Knode, eine dreistufige Modellierung von Privatheit deutlich: In der sehnsüchtig angestrebten platonischen Freundschaft zwischen Woldemar und der Figur Henriette manifestiere sich das erste Konzept der Privatheit als Ich-Entfaltung, da Woldemar durch diese Freundschaft empfindsame Tugend-ideale anstrebe und zum autonomen Teil der Großfamilie werden wolle. Durch das Scheitern dieser Freundschaft aber werde eine zweite Ebene des Privaten, Privatheit als Ich-Isolation, deutlich: Da die Prämissen der Tugendideale nicht erfüllt werden, reagiert Woldemar mit Abkapselung und Isolation. Der Ausgang des Romans beschreibe schließlich die dritte Ebene des Privaten: die »lebenstaugliche Synthese aus Ich-Entfaltung und Ich-Isolation«.
Sarah Goeth (Universität Hamburg), die zum Thema »Vom Verschwinden der Räume in der Romantik. Intime Erzählstrategien bei Novalis und Eichendorff« referierte, identifizierte den romantischen Roman als »experimentelle literarische Kulturtechnik«, bei der »das Intime zu einer Selbst(er)findung« führe. Modifikationen des Raumbegriffs setzte Goeth in Beziehung zur von Hannah Arendt konstatierten Entwicklung des Raumes des Gesellschaftlichen. »Statt des Politischen und des Privaten stehen sich nun Gesellschaft und Innerlichkeit als ortlose Formationen des Sozialen gegenüber.« Intimität sei an gesellschaftliche Öffentlichkeit gekoppelt und müsse sich dennoch wiederkehrend gegen sie verteidigen und neu formieren. Die Kunstform, die stetige Grenzüberschreitungen des Intimen und Privaten in den öffentlichen, gesellschaftlichen Raum umfassend thematisiere, sei der romantische Roman. Dieses Phänomen zeigte Goeth anhand von Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen und Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts auf.
Sarah Nienhaus (Universität Münster) bearbeitete in ihrem Vortrag »Bricolage. Narrativierte Prozesse des Entscheidens in Paul Heyses Autobiographie ›Jugenderinnerungen und Bekenntnisse‹« die Frage, ob die private Entscheidung für das schriftstellerische Schaffen eine autonome ist und wie diese Entscheidung in für die Öffentlichkeit bestimmten Autobiographien reflektiert wird. So fokussierte sie die »Inszenierung eines ›privaten‹ Entscheidungsprozesses«, der in der Autobiographie Paul Heyses durch (als authentisch ausgewiesene) Briefe des Vaters ex post legitimiert und rationalisiert werde. Auf diese Weise werde »das Paradox von einem für die Öffentlichkeit bestimmten Raum des Privaten« erzeugt. Konkret handele es sich hier um gewährte Einblicke des Lesers in »Archive von Entscheidungsressourcen« des Autors. Nienhaus operationalisierte dieses Phänomen der Inszenierung von privaten Entscheidungsarchivalien mit dem Begriff der Bricolage, den sie abschließend zur Diskussion stellte.
Nicolas Passavant (Universität Basel) folgte in seinem Vortrag »Vom Bett aus in die Moderne. Die Urhütte als Reflexionsraum literarischer Exzentrik« der These, dass der Topos der Urhütte in nachromantischer Literatur dort relevant wird, »wo sich im Kontext ›größter Wohnsucht‹ literarische Erneuerungsbewegungen abzeichnen.« Passavant hinterfragte somit die Gleichung »Wohnlichkeit gleich Untauglichkeit zur Exzentrik«, die durch die Philisterkritik in Sturm und Drang und Frühromantik aufkam, und bot einen kursorischen Überblick, der »nach Jean Paul über E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe bis zu Hans Fallada und Udo Lindenberg« führte. Dieser literaturgeschichtliche Kursus sollte zeigen, dass Biedermeier, Wohnlichkeit und Exzentrik nicht nur kontrastiv funktionieren können, sondern sich im Topos der Urhütte durchaus ein »exzentrische[r] Gestus mit dem Prinzip des Wohnlichen« zusammenbringen lasse.
Sabrina Huber (Universität Düsseldorf) beschloss mit ihrem Vortrag »›Aber privat sein war so gar nicht sein Fall‹ – Räume des Privaten und Nicht-Privaten im gegenwärtigen Überwachungsroman« den Workshop. Huber begegnete dem Thema durch die Analyse zweier zeitgenössischer Dystopien: Thomas Sautners Fremdes Land und Juli Zehs Corpus Delicti. So untersuchte sie die Erzählweisen des Privaten und Nicht-Privaten in den Romanen und berief sich dabei auf Beate Rösslers Privatheitsdimensionen. Als besonders auffallend stellte sie heraus, dass bei Sautner private Schutzräume nur noch in »semantisch-metaphorischer« Art (in Form von Träumen) zu finden seien – topographische Räume des Privaten würden durch allumfassende Überwachung entprivatisiert.
Abschließend ist dem Organisationsteam des Workshops für die exzellente Planung und den Referentinnen und Referenten für die facettenreichen Einblicke in »Privates Erzählen« zu danken. Die regen und fruchtbaren Diskussionen trugen zum Verständnis bei, wie Privatheit in literarischen Texten dargestellt und verhandelt wird. Der Workshop machte deutlich, dass Literatur als Reflexionsmedium gesellschaftlicher Prozesse bei der Verhandlung von kulturellen Praktiken und Normen einen entscheidenden Beitrag zu unserem Verständnis und unseren Umgang mit Privatheit leistet.